Migräneerkrankung – im Interview mit Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Hartmut Göbel
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Göbel,
wir freuen uns sehr, dass Sie sich die Zeit nehmen, um uns über die neuesten Forschungsergebnisse bezüglich der Migräneerkrankung zu informieren!
Bei der Migräne handelt es sich um eine neurologische Erkrankung. Können Sie uns schildern, wie sich Migräne auswirkt und was genau im Gehirn passiert?
Repräsentative Studien zeigen, dass 71% der Deutschen angeben, im Laufe ihres Lebens an Kopfschmerzen zu leiden. Die Zahl umfasst alle heute bekannten 367 verschiedene Arten von Kopfschmerzen. In Deutschland leben somit über rund 54 Millionen Menschen, die immer wieder Kopfschmerzen ertragen müssen.
Kopfschmerzen können über lange Spannen des Lebens auftreten, häufig über 40-60 Jahre. Sie führen zu einem großen Leidensdruck und zu erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität und der Arbeitsfähigkeit. Die Weltgesundheitsorganisation listet die Migräne auf Platz 7 der am schwersten behindernden Erkrankungen. Nimmt man alle Kopfschmerzen zusammen, stehen Kopfschmerzen auf Platz 3 der am schwersten behindernden Erkrankungen des Menschen.
Migräne ist die dritthäufigste Erkrankung der Welt (hinter Zahnkaries und Spannungskopfschmerzen) mit einer geschätzten globalen Einjahres-Prävalenz von 14,7% (d.h. etwa eine von sieben Personen). Im Alter zwischen 30 und 40 Jahren ist nahezu jede dritte Frau betroffen. Migräne ist häufiger als Diabetes, Epilepsie und Asthma kombiniert. Chronische Migräne betrifft etwa 2% der Weltbevölkerung. Migräne betrifft dreimal so viele Frauen wie Männer. Jeden Tag sind in Deutschland 900.000 Menschen betroffen. 100.000 Menschen sind wegen Migräne pro Tag arbeitsunfähig und bettlägerig.
„8,3 Millionen Deutsche nehmen im Mittel jeden Tag eine Kopfschmerztablette über Selbstmedikation“
58.853 Triptan-Einzeldosen, das sind spezielle Migränemittel für die Attacken-Behandlung, werden im Mittel jeden Tag in Deutschland eingenommen. Mehr als die Hälfte der Betroffenen erlebt eine schwere Beeinträchtigung durch die Anfälle. Migräne beginnt oft in der Pubertät. Am stärksten behindert sie im Alter zwischen 35 und 45 Jahren. Aber auch viele junge Kinder sind betroffen. In den letzten Jahren zeigt sich besonders bei Kindern eine starke Zunahme.
Migräneattacken sind anfallsweise Kopfschmerzen, die eine Dauer von 4-72 Stunden haben. Der Kopfschmerz hat einen pulsierend-pochenden Charakter. Er ist an einer umschriebenen Stelle des Kopfes spürbar. Körperliche Tätigkeit verstärkt den Schmerz, die Schmerzen haben eine sehr starke Intensität, weshalb die Tätigkeit schwer behindert wird oder ganz unmöglich gemacht wird. Die Schmerzen können von Übelkeit, Erbrechen sowie Lärm- und Lichtüberempfindlichkeit begleitet werden.
Die Symptome der Migräne und der komplexe Vorgang im Gehirn
Grundsätzlich ist bei der Migräne keine strukturelle Störung des Gehirns vorhanden, der Aufbau des Gehirns ist also regelrecht. Allerdings können Migränepatienten aufgrund ihrer genetischen Ausstattung sehr schnell und sehr effektiv Reize differenzieren, alles zu Schnelle, alles zu Viele, alles zu Plötzliche, alles was auf einmal auf das Nervensystem einströmt, wird zu einer starken Aktivierung der Nervenzellen führen mit der Folge, dass die Energievorräte in den Nervenzellen erschöpft werden. Dies führt immer wieder zu einer Entgleisung der Regulierung der Nervenfunktion, sie kann zusammenbrechen und eine Migräneattacke kann entstehen.
Tritt eine solche Fehlsteuerung der Nervenfunktion auf, können Entzündungsstoffe an den Arterien der Hirnhäute freigesetzt werden. Diese führen zu einer verstärkten Empfindlichkeit der Hirnhäute. Jeder Pulsschlag führt zu einem pochenden, hämmernden Migräneschmerz, jede Bewegung des Schädels tut weh. Deshalb versuchen Migränepatienten möglichst Ruhe einzuhalten, körperliche Tätigkeit zu vermeiden. Der Migräneschmerz basiert also auf einer neurogenen Entzündung mit erhöhter Schmerzempfindlichkeit.
Neben weiteren Faktoren ist die genetische Disposition für den Ausbruch einer Migräneattacke verantwortlich. Lässt sich der persönliche Anteil der genetischen Disposition messen?
Neueste Untersuchungen haben belegt, dass spezielle Risikogene die Wahrscheinlichkeit an Migräne zu leiden erhöhen. Heute ist bekannt, dass Migränepatienten in ihren Erbanlagen zahlreiche Besonderheiten aufweisen. Mittlerweile sind 38 Genorte mit 44 Genvarianten bekannt, die das Risiko, mit Migräne reagieren zu können, erhöhen. Diese Genvarianten steuern zum einen die Reizübertragung, die Reizempfindlichkeit und Reizverarbeitung. Zum anderen steuern diese Genvarianten auch die Regulation der Energieversorgung von Nervenzellen und die Regulation der Arterienwände.
Arterienwände darf man sich nicht als eine Art Schlauch vorstellen. Vielmehr sind die Ummantelungen der Blutgefäße das größte endokrine Organ in unserem Körper. Dort werden zahlreiche Botenstoffe produziert, die die Durchblutung und auch Entzündungsreaktionen regulieren. Dort werden auch viele Substanzen aktiviert, die für wichtige Steuerungsvorgänge in unserem Körper relevant sind. Eine Störung der Energieversorgung, z.B. durch oxidativen Stress, kann diese Regulation ins Ungleichgewicht bringen und Fehlfunktionen bedingen.
So spielen sowohl die Erbanlagen als auch Umweltfaktoren, Verhaltensfaktoren und soziale Faktoren eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung von Migräneattacken. Die neuen Entdeckungen weisen darauf hin, dass eine Störung der Blut- und Energieversorgung des Gehirns wesentlich für die Entstehung der Migräne ist. Sie sind ein Meilenstein für das Verständnis der Ursachen der Migräne. Die genetische Disposition und das Verhalten wirken zusammen bei der Auslösung von Migräneattacken.
Können Auslöser durch die Betroffenen selbst beeinflusst werden und welche Bestandteile gehören zu einer zeitgemäßen Migränetherapie?
Der wichtigste Faktor, der Migräneattacken auslöst ist Unregelmäßigkeit im Alltag und zu hohe Energieabforderung der Nervenzellen. Stress, Unregelmäßigkeit, alles zu schnell, alles zu viel, alles zu plötzlich, alles auf einmal, kann Migräneattacken auslösen. Die zeitgemäße Migränetherapie beruht auf drei entscheidenden Säulen. Die erste Säule besteht aus Wissen und Information.
Migränepatienten müssen wissen, wie Migräneattacken entstehen, was im Nervensystem passiert und wie sie ausgelöst werden. Sie brauchen eine umfassende Information über Verhaltensweisen und Maßnahmen um sich vor Migräne zu schützen. Dazu gehört in erster Linie ein regelmäßiger Tag-Nachtrhythmus. Patienten sollten regelmäßig Mahlzeiten zu sich nehmen. Es empfehlen sich kohlenhydratreiche Mahlzeiten, da das Nervensystem auf Kohlenhydrate angewiesen ist.
Migräneattacken entstehen durch ein Energiedefizit in den Nervenzellen durch die hohe Aktivität, die genetisch bedingt ist. Ausreichendes Trinken, ein regelmäßiger Schlaf sowie regelmäßige Pausen im Alltag sollten zusätzlich eingeleitet werden. Das Lernen eines Entspannungstrainings wie die progressive Muskelrelaxation kann die Migränehäufigkeit deutlich reduzieren.
Dabei kann die Migräne-App helfen, in diese ist neben vielen anderen Infos zur Migräne auch eine Anleitung zur progressiven Muskelrelaxation integriert. Informationen durch einen Patientenratgeber oder durch Information im Internet kann ebenfalls sehr viel Wissen vermitteln, das im Alltag hilft, die Migränehäufigkeit zu reduzieren. Selbsthilfegruppen wie z.B. die Internetplattform www.headbook.me kann zum Austausch führen und Wissen bei den Betroffenen weitergeben. Sporttherapie ist ebenfalls gut geeignet, Migräneattacken in ihrer Häufigkeit zu reduzieren. Dabei hilft insbesondere gleichmäßiger Ausdauersport wie Laufen, Schwimmen oder Fahrradfahren.
Die medikamentöse Migränetherapie
Bei mehr als sieben Kopfschmerztagen pro Monat sollte zusätzlich zu den beschriebenen Maßnahmen eine medikamentöse Prophylaxe erwogen werden. Diese besteht aus unterschiedlichen medikamentösen Möglichkeiten. Diese schließen die Gabe von Betablockern, Calciumantagonisten, Antiepileptika, Antidepressiva und anderen Substanzen ein. Es sollte eine individuelle Auswahl erfolgen, dies muss mit einem Arzt abgesprochen werden. Für die Behandlung der akuten Attacke gibt es verschiedene Möglichkeiten. Bei leichten Attacken können Schmerzmittel wie Aspirin, Ibuprofen oder Paracetamol eingesetzt werden, bei Übelkeit und Erbrechen verbindet man dies mit der Gabe von sogenannten Mitteln gegen Übelkeit und Erbrechen wie z.B. Metoclopramid.
Bei schweren Attacken stehen sieben verschiedene Triptane in verschiedenen Darreichungsformen zur Verfügung. Sie können bei schwerer Übelkeit oder Erbrechen auch selbst unter die Haut mit einem Pen injiziert werden, sie stehen auch als Nasenspray oder als Zäpfchen zur Verfügung. Triptane sollten so früh wie möglich im Anfall eingenommen werden, auch hier gilt die 10-20-Regel, sie sollen an weniger als 10 Tagen pro Monat verwendet werden, damit kein Medikamentenübergebrauch-Kopfschmerz (MÜK) entsteht.
Neue Therapiemöglichkeiten bei der chronischen Migräne, d.h. bei Migräne die mehr als an 14 Tagen im Monat auftritt, sind Botulinumtoxin und die Neuromodulation. Diese können bei besonders schwerwiegenden Verläufen durch spezialisierte Kopfschmerzzentren eingesetzt werden.
Migräneattacken können mehrere Tage lang anhalten. Lässt sich die Schwere der Erkrankung mittels EEG oder MRT darstellen?
Migräneschmerzen sind Symptome, die sich im Erleben und Verhalten äußern. Daher sind diese Merkmale nur durch Angaben des Patienten erfahrbar. Migräne tritt jedoch in 45 verschiedenen Varianten auf.
Dazu zählen z. B. der migräneöse Infarkt oder durch Migräne getriggerte epileptische Anfälle. Diese Auswirkungen der Migräne lassen sich im MRT bzw. EEG feststellen.
In der Migräneforschung hat sich in den letzten Jahren viel getan. Neueste Untersuchungen zeigen Therapieerfolge mit Hilfe von monoklonalen Antikörpern. Wie funktioniert diese Behandlungsmethode?
Migräne wird in den letzten Jahrzehnten sehr intensiv beforscht. Die eigenständige Entstehungsweise sowie die Erkrankungsmechanismen der Migräne und auch die Entstehung der Migräneattacken sowie deren Behandlung werden zunehmend besser verstanden. Erstmalig ist es gelungen, spezifische Antikörper gegen Botenstoffe zu entwickeln, die die Entzündung an den Arterien der Hirnhäute bedingen. Gibt man sogenannte monoklonalen Antikörper, können die Auswirkungen dieser Entzündungsstoffe für einige Wochen gestoppt werden und die Wahrscheinlichkeit für Migräneattacken deutlich reduziert werden.
Dabei spielt das sogenannte CGRP, ein Entzündungsprotein, eine zentrale Rolle. Aktuell werden Antikörper dagegen entwickelt und in zahlreichen Studien getestet. Die jetzt verfügbaren Antikörper haben in sehr groß angelegten internationalen Studien alle ihre Wirksamkeit belegt. Es gibt Antikörper, die gegen CGRP direkt wirken oder aber den Rezeptor für CGRP blockieren. Sie müssen im Abstand von 4 Wochen verabreicht werden. Sie sind im Gegensatz zu allen anderen bisher verfügbaren vorbeugenden Medikamenten spezifisch für die Migränevorbeugung entwickelt worden.
Eine langsame Aufdosierung aufgrund von Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen ist nicht erforderlich. Der Wirkeintritt ist schnell, initial innerhalb von wenigen Tagen zu erwarten, bei den bisherigen konventionellen vorbeugenden Medikamenten wird dieser oft erst nach Wochen oder gar Monaten erreicht. Nebenwirkungen der bisher migränevorbeugenden Mittel wie z.B. Gewichtszunahme, Stimmungsveränderungen, Müdigkeit, Antriebsreduktion oder Benommenheit treten nicht auf. Im Gegensatz zu den bisherigen Medikamenten, die häufig schon nach kurzer Zeit aufgrund solcher Nebenwirkungen abgesetzt werden, bleiben die behandelten Patienten aufgrund der Verträglichkeit und Wirksamkeit nachhaltig bei diesem Therapieprinzip.
Sie erwähnten in einem Interview, dass das Gehirn eines Migränikers neben ausreichend Flüssigkeit auch unbedingt Kohlenhydrate benötige. Immer mehr junge Menschen folgen dem low carb Prinzip. Was sollte ein Migräniker beachten und welche Ernährung würden Sie empfehlen?
Das Nervensystem erhält seine Energie über die Ernährung. Dabei benötigt es Kohlenhydrate. Fette und Eiweiß nutzt das Gehirn nicht als Energieträger. Zusätzlich benötigt es Sauerstoff und ausreichend Flüssigkeitszufuhr. Trinkt man zu wenig oder hält man sich in Räumen mit schlechter Luft oder großen Höhen auf, können allein dadurch Migräneattacken bedingt werden. Ein besonders hoher Energiebedarf besteht am frühen Morgen nach dem Fasten über Nacht. Daher ist ein regelmäßiges und kohlenhydratreiches Frühstück wichtig. Lässt man das Frühstück aus, frühstückt man zu hastig oder nimmt man zu wenig Kohlenhydrate auf, können am späteren Vormittag Migräneattacken bedingt werden. Wichtig ist auch ein regelmäßiges Mittagessen zu einer festen Zeit und ein regelmäßiges Abendessen. Unregelmäßige Einnahme von koffeinhaltigen Getränken können ebenfalls Migräneattacken bedingen. Coffein aktiviert den Energieumsatz in den Nervenzellen und kann bei unregelmäßiger Verwendung phasenweise Energiedefizite bedingen.
Oft zeigen sich die ersten Migräneattacken bereits im Kindesalter. Aufgrund der Erkrankung können die Kinder voraussichtlich nicht an allen Aktivitäten ihrer Altersgenossen teilnehmen und fühlen sich womöglich ausgegrenzt. Hier ist die Aufklärung der Eltern hinsichtlich der zusätzlichen psychischen Belastung von entscheidender Bedeutung. Wie ist Ihre Erfahrung?
Kopfschmerzen sind das häufigste und schwerwiegendste Gesundheitsproblem bei Schülerinnen und Schülern. Kinder mit Migräne zeigen häufiger Schwierigkeiten in der Schule, als Kinder ohne Migräne. Viele Studien konnten bisher belegen, dass eine gute schulische Leistung Einfluss auf die spätere berufliche Zukunft, Lebensqualität und das finanzielle Einkommen ausübt. Wenn Migräne einen negativen Einfluss auf die Schulleistung ausübt, kann sie die Zukunft der betroffenen Kinder deutlich negativ beeinflussen. Eine ineffektive Migränebehandlung kann für das gesamte weitere Leben negative Auswirkungen haben.
Wir haben deshalb ein präventives Programm für Jugendliches entwickelt. Die „Aktion Mütze – Kindheit ohne Kopfzerbrechen“ stellt siebten Klassen kostenfreie Unterrichtsmaterialien zur Kopfschmerzprävention zur Verfügung. Viele Krankenkassen fördern das Projekt bundesweit im Rahmen ihres gesetzlichen Präventionsauftrages. Die Ergebnisse der begleitenden wissenschaftlichen Befragung belegen hohe Fallzahlen und eine unzureichende Versorgung der kopfschmerzbetroffenen Kinder und Jugendlichen. Mit einem neuen Comicfilm wurde ein Angebot geschaffen, das Schülerinnen und Schüler über die Entstehung und die Behandlung von Kopfschmerzen zeitgemäß informiert.
Wie sollte man Migräne in der Schwangerschaft behandeln?
Mehrere große internationale Studien haben in den letzten Jahren den Fokus auf die Einnahme von Paracetamol und auch Ibuprofen während der Schwangerschaft gelenkt. Man geht davon aus, dass über 50-60 % der Schwangeren in Europa während der Schwangerschaft Paracetamol verwenden. In den USA nehmen bis zu 70 % der Frauen Paracetamol während der Schwangerschaft ein. Paracetamol ist lediglich zugelassen für leichte bis mäßig starke Schmerzen. Der häufigste Einnahmegrund für die wiederholte Einnahme sind Kopfschmerzen. Gerade diese können während der Schwangerschaft bei Patientinnen mit primären Kopfschmerzen regelmäßig über die gesamte Schwangerschaft an vielen Tagen der Woche auftreten. Immer noch wird Schwangeren vermittelt, dass Paracetamol mit dem Indikativ „Du darfst!“ oder gar dem Imperativ „Nimm, schadet ja nichts!“ eingesetzt wird. Ziel soll die Funktionsfähigkeit im Alltag, die Reduktion von Schmerzen oder Fieber sein.
Befürworter unterstellen, dass mit Paracetamol eine Schmerzbehandlung möglich ist, um anhaltende und starke Schmerzen bei den Schwangeren zu reduzieren. Gerade mit diesem Argument sollte Paracetamol Schwangeren nicht empfohlen werden, da ein off-lable-use damit bedingt ist, Paracetamol ist für starke oder gar sehr starke Schmerzen nicht wirksam. Mit dem Einsatz von Paracetamol während der Schwangerschaft sind bei gleichzeitiger Wirkungslosigkeit jedoch zahlreiche Risiken verbunden. Es besteht ein erhöhtes Risiko für Unfruchtbarkeit, ein erhöhtes Risiko für Allergien und Asthma, ein erhöhtes Risiko für eine schlechtere gesamtmotorische Entwicklung sowie ein erhöhtes Risiko für hyperkinetische Störungen (HKS) und Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). Die mittlerweile umfangreich belegten Risiken von Paracetamol in der Schmerztherapie bei weitgehender Unwirksamkeit gerade bei alltagsrelevanten Schmerzursachen dürfen nicht verharmlost werden und gar den Schwangeren die erforderlichen Informationen zur informierten freien Entscheidung vorenthalten werden. Es ist bedrückend genug, dass Schwangeren früher diese Fakten nicht bekannt waren. Umso wichtiger ist es, dass sie bekannt werden und in die Versorgung eingehen.
Auch die Einnahme von Ibuprofen kann nach neuen Studien nachhaltige negative Effekte haben, wenn es während der Schwangerschaft eingenommen wird. Diese Effekte könnten Auswirkungen auf die spätere Fruchtbarkeit bei Mädchen Jahrzehnte nach der Geburt haben bis hoch in das Alter der Wechseljahre und Menopause.
Die Befunde verdeutlichen erneut, dass bei der hohen Anzahl von Schwangeren, die Schmerzmittel einnehmen, eine Aufklärung über die Behandlung von Schmerzen während der Schwangerschaft dringend erforderlich ist. Schmerzmittel während der Schwangerschaft sollten nur eingenommen werden, wenn sie unbedingt nötig sind und auch dann nur in einer möglichst niedrigen Dosis für eine möglichst kurze Zeit. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass gerade Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Paracetamol nur eine schwache schmerzlindernde Wirkung haben. Für schwere Schmerzen sind sie ungeeignet. Gerade in der Schwangerschaft sollten Schmerzmittel nicht ohne ärztlichen Rat eingenommen werden, um die möglichen Risiken in Hinblick auf den zu erwartenden Effekt abzuwägen.
Dabei sollte insbesondere berücksichtigt werden, dass es zahlreiche nichtmedikamentöse Behandlungsoptionen für die Vorbeugung als auch die Akuttherapie von Schmerzen gibt. Migräne ist aufgrund des episodischen wiederkehrenden Verlaufes ein häufiger Grund für schmerztherapeutische Maßnahmen in der Schwangerschaft. Vorbeugende Maßnahmen schließen Informationen über Auslösefaktoren, Entspannungsverfahren, Rhythmisierung des Tagesablaufs, Ernährung und das Anpassen von Verhalten ein. Treten Anfälle auf, sind Ruhe und Reizabschirmung sowie die Attestierung der Arbeitsunfähigkeit wichtige Schritte. Der Hinweis auf die Einnahme von Paracetamol, um funktionieren zu können, ist nicht sachgerecht, die Wirksamkeit ist marginal, die meisten Patienten setzen es ohne Effekt ein, das Ausbleiben der Wirkung führt zu tagelanger wiederholter Einnahme ohne bedeutsamer Schmerzreduktion. Vorbeugende Behandlungsmaßnahmen wie die Gabe von Magnesium können ebenfalls zu einer Reduktion der Schwere und der Häufigkeit der Attacken führen. Sollten schwerste oder sehr schwere Migräneanfälle auftreten, wäre die Gabe von Paracetamol nicht zulassungskonform. Für schwere oder gar sehr schwere Schmerzen ist Paracetamol nicht zugelassen. Hier kann die Einnahme von Sumatriptan oder auch Prednisolon in Absprache mit dem Arzt erwogen werden.
Ein Literaturüberblick zu diesem Thema findet sich hier.
Vielen Dank für das Interview!
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