Clusterkopfschmerz erkennen – Apothekenfachpersonal als Schlüssel zur schnelleren Diagnose
Clusterkopfschmerz gehört zu den schwersten bekannten Kopfschmerzformen – die Schmerzattacken sind extrem intensiv, treten immer einseitig auf und wiederholen sich in regelrechten Serien. Dennoch bleibt die Erkrankung oft lange unerkannt. Viele Betroffene durchlaufen eine jahrelange Odyssee von Fehldiagnosen und unzureichender Behandlung.
Gerade deshalb spielt das pharmazeutische Personal in Apotheken eine zentrale Rolle: Als niedrigschwellige erste Anlaufstelle im Gesundheitssystem seid ihr als PTA häufig diejenigen, die frühe Hinweise auf ernsthafte Beschwerden wahrnehmen, oft sogar bevor die Betroffenen selbst ihre Symptome richtig einordnen können.
Doch wie lassen sich Clusterkopfschmerzen erkennen? Worauf solltet ihr in Beratungsgesprächen achten? Und wie könnt ihr Betroffenen den Weg zur richtigen Behandlung erleichtern?
Darüber haben wir mit Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Hartmut Göbel, Direktor der Schmerzklinik Kiel, gesprochen. Der renommierte Schmerzexperte erklärt im Interview, wie Apothekenfachpersonal typische Warnzeichen, wie bohrende, halbseitige Kopfschmerzen, die oft nachts auftreten und mit Unruhe oder Tränenfluss einhergehen, einordnen kann.

1. Erkennung & Abgrenzung
Wodurch unterscheidet sich Clusterkopfschmerz von anderen Kopfschmerzarten wie Migräne oder Spannungskopfschmerz?
Clusterkopfschmerz ist eine eigenständige, im Vergleich zur Migräne und Spannungskopfschmerz seltene, aber extrem schmerzhafte primäre Kopfschmerzerkrankung. Die Schmerzen treten einseitig, streng orbital oder temporofrontal auf und sind attackenartig. Eine Attacke dauert 15 Minuten bis 3 Stunden, bis zu achtmal täglich.
Typisch sind Begleiterscheinungen wie Tränenfluss, Nasenlaufen, ein gerötetes Auge oder ein Lidödem – alles einseitig. Im Gegensatz zu Migränepatient:innen, die sich zurückziehen, sind Betroffene motorisch unruhig, halten den Oberkörper aufrecht oder laufen umher.
Migräne zeigt sich als pochender, pulsierender Schmerz mit Übelkeit, Lichtempfindlichkeit und Verstärkung durch Bewegung. Spannungskopfschmerz ist beidseitig, dumpf-drückend, weniger intensiv und erlaubt meist alltägliche Aktivitäten.
Warum wird Clusterkopfschmerz so häufig mit Migräne verwechselt – selbst von medizinischem Fachpersonal?
Aufgrund der Seltenheit (etwa 1 von 1.000 Personen betroffen), des einseitigen Schmerzbildes und der unspezifischen Beschreibung durch Betroffene wird Clusterkopfschmerz oft fehldiagnostiziert. Viele Ärzt:innen kennen die Krankheit nicht im Detail.
Wie lässt sich das Verhalten von Patient:innen während eines Anfalls unterscheiden?
Während Migränepatient:innen Ruhe suchen, Licht meiden und sich hinlegen, sind Clusterpatient:innen unruhig, gehen umher, schreien oder schlagen gegen Wände. Diese motorische Unruhe ist ein zentrales Unterscheidungsmerkmal.
Gibt es Frühwarnzeichen oder typische Verhaltensmuster?
Ja – Betroffene berichten über plötzlich einsetzende, extrem starke Schmerzen um das Auge, die 30–60 Minuten andauern und mehrmals täglich auftreten. Dabei vermeiden sie Ruhepositionen, sind stattdessen körperlich aktiv oder ruhelos.
Warum dauert es häufig so lange, bis eine eindeutige Diagnose gestellt wird?
Clusterkopfschmerz wird wegen seiner Seltenheit und Ähnlichkeiten zu anderen Erkrankungen (Sinusitis, Migräne, Zahnschmerzen) oft erst nach Jahren korrekt diagnostiziert. Eine gezielte Anamnese und Kenntnisse über trigemino-autonome Kopfschmerzen sind essenziell.
Was ist die zugrunde liegende Ursache?
Die Pathophysiologie ist komplex und noch nicht vollständig geklärt. Wahrscheinlich besteht eine Fehlfunktion im Hypothalamus, der zentrale Körperfunktionen wie Schlaf-Wach-Rhythmus und Schmerzempfinden reguliert.
Aktivierungen des trigeminovaskulären Systems sowie des autonomen Nervensystems führen zu den charakteristischen Schmerz- und Begleitsymptomen. Auch Neurotransmitter wie Serotonin, Histamin und CGRP sind beteiligt. Als Auslöser gelten genetische Veranlagung, Umweltfaktoren, Schlafstörungen, Alkohol und Nikotin.
2. Rolle der Apotheke
Welche Anzeichen sollten Apotheker:innen ernst nehmen?
Einseitiger, sehr starker Kopfschmerz mit Attacken von 15 bis 180 Minuten, motorische Unruhe sowie Begleitsymptome wie Tränenfluss oder Augenrötung und fehlendes Ansprechen auf klassische Schmerzmittel sollten aufmerksam machen.
Gibt es gezielte Fragen zur Abklärung in der Apotheke?
Ja – der Kopfschmerzschnelltest (z. B. in der kostenlosen Migräne-App) enthält folgende Fragen:
- Tritt der Schmerz einseitig im Augen-/Schläfenbereich für 15 Minuten bis 3 Stunden auf?
- Wird der Schmerz begleitet von Tränenfluss, Augenrötung, Nasenlaufen, hängendem Augenlid oder motorischer Unruhe?
- Treten die Attacken mehrmals täglich oder jeden zweiten Tag auf?
Bei mindestens zwei Ja-Antworten ist Clusterkopfschmerz wahrscheinlich.
Welche Rolle kann die Apotheke übernehmen?
Apotheken können gezielt lotsen, über Notfallmedikamente wie Sumatriptan-Pens oder Sauerstoff informieren, zur Therapietreue motivieren und als niedrigschwellige erste Anlaufstelle fungieren.
3. Akutbehandlung & Alltag
Was ist während eines Anfalls zu tun?
Sofortige Anwendung der verordneten Akuttherapie: Sauerstoff (12–15 l/min über 15 Minuten mit Reservoirmaske), Sumatriptan 6 mg s.c. oder 20 mg nasal, alternativ Zolmitriptan 5 mg nasal. Lidocain-Nasenspray ist im Einzelfall eine Option.
Warum helfen klassische Schmerzmittel nicht?
eil sie zu langsam und zu schwach wirken. Die spontane Beendigung der Attacke nach etwa einer Stunde wird fälschlich als Wirkung fehlgedeutet.
Welche Herausforderungen bestehen bei Medikamenten und Sauerstoff?
- Sauerstoff: aufwendige Verordnung, eingeschränkte Mobilität, nur bei ca. 50 % wirksam.
- Sumatriptan: effektiv, aber teuer und oft zurückhaltend verordnet.
- Lidocain: schwer verfügbar, unhandlich, Wirkung unsicher.
Was sollte man zur Sauerstoffanwendung wissen?
Nur mit Reservoirmaske bei 12–15 l/min im Sitzen. Geräte sollten mobil sein; die Verordnung erfolgt ärztlich auf Diagnosenachweis.
Wie wichtig ist Therapietreue?
Sehr wichtig. Die Apotheke kann durch Einweisung, Erinnerungen und Aufklärung über Alternativen unterstützen.
4. Prophylaxe & neue Ansätze
Welche Medikamente haben sich bewährt?
Verapamil retard ist am wirksamsten, oft in hoher Dosierung (bis 2 x 480 mg), Wirkungseintritt nach ca. 7 Tagen. Auch Lithium und Topiramat können helfen. Als Übergang dient eine Kortison-Stoßtherapie.
Warum helfen Entspannungstechniken meist nicht?
Weil Clusterkopfschmerz neurobiologisch bedingt ist, nicht durch muskuläre oder stressbezogene Mechanismen.
Welche Rolle spielt CGRP – und warum ist Galcanezumab nicht zugelassen?
CGRP ist beteiligt, Galcanezumab zeigte nur bei episodischem Cluster Wirkung. Die EMA verwehrte die Zulassung wegen unzureichender Evidenz.
Welche neuen Entwicklungen geben Anlass zur Hoffnung?
- Neue monoklonale Antikörper
- Okzipitale Nervenstimulation
- Verbesserte Sauerstoffversorgung
- KI-gestützte Diagnoseinstrumente
5. Psychische Belastung & Hilfsangebote
Wie groß ist die Belastung – und wann wird sie kritisch?
Sehr hoch. Viele entwickeln Depressionen, Angststörungen oder Suizidgedanken. Warnsignale wie Rückzug oder Hoffnungslosigkeit erfordern schnelle, professionelle Hilfe.
Welche Hilfsangebote gibt es?
Die CSG-Selbsthilfegruppen (online), spezialisierte Kliniken, Schmerzambulanzen und psychotherapeutische Unterstützung.
Was kann das Umfeld tun?
Zuhören, ernst nehmen, konkrete Hilfe anbieten. Arztbesuche begleiten, Therapien mittragen, eigene Belastung reflektieren.
6. Ausblick & Appell
Was wünschen Sie sich gesellschaftlich und politisch?
- Mehr Aufklärung in Ausbildung und Praxis
- Bessere Früherkennung durch Screeningtools
- Erstattungsfähigkeit moderner Therapien
- Zugang zu wirksamer Akut- und Prophylaxe-Therapie
- Stärkere Unterstützung von Forschung und Selbsthilfe
Was möchten Sie Betroffenen und Angehörigen mitgeben?
Clusterkopfschmerz ist eine schwere, aber behandelbare neurologische Erkrankung. Frühzeitige Diagnose und konsequente Therapie ermöglichen eine gute Kontrolle. Es gibt Hoffnung – durch moderne Therapien, gegenseitige Unterstützung und den Austausch in Selbsthilfegruppen. Für Betroffene wie Angehörige gilt: Hilfe annehmen ist Stärke. Gemeinsam lassen sich auch schwere Zeiten bewältigen.
Herzlichen Dank, Prof. Dr. Göbel, für das aufschlussreiche Gespräch. Ihre praxisnahen Einblicke zeigen, wie gezielte Aufklärung und gute Zusammenarbeit Betroffenen wirksam helfen können. Danke für Ihre Zeit und Ihr Engagement!
Früherkennung beginnt in der Apotheke – dein fachlicher Blick ist gefragt
Clusterkopfschmerz ist eine seltene, aber schwerwiegende neurologische Erkrankung, die häufig nicht oder erst spät erkannt wird. Als pharmazeutisch-technische Assistenz hast du die Möglichkeit, einen wichtigen Beitrag zur Früherkennung zu leisten – gerade weil du Patient:innen oft regelmäßig begegnest und ihre Beschwerden im Gespräch aufmerksam wahrnimmst.
Wenn dir wiederkehrende, einseitige Kopfschmerzen mit Begleiterscheinungen wie Tränenfluss, Nasenlaufen oder Unruhe geschildert werden, lohnt es sich, genauer nachzufragen.
Ein geschulter Blick für typische Muster, ein offenes Gespräch und die Empfehlung zur ärztlichen Abklärung können bei Verdacht auf Clusterkopfschmerz entscheidend dazu beitragen, die richtige Diagnose frühzeitig zu stellen und eine wirksame Therapie einzuleiten.
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Clusterkopfschmerz ist selten – aber extrem belastend. Prof. Göbel macht im Interview deutlich, wie viel Kompetenz schon am HV-Tisch helfen kann. Unser neuer Beratungsleitfaden bietet euch das nötige Know-how für eine sichere Beratung.
Mehr über Herrn Prof. Dr. Göbel
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Hartmut Göbel ist Neurologe, Schmerztherapeut und einer der führenden Kopfschmerzexperten in Deutschland. 1997 gründete er die renommierte Schmerzklinik Kiel, die er bis heute als Chefarzt leitet. Mit wegweisenden Studien, der Entwicklung bundesweiter Versorgungskonzepte und der Gründung des ersten Clusterkopfschmerz-Kompetenzzentrums hat er die Schmerzmedizin in Deutschland entscheidend mitgestaltet.
Zur Unterstützung von Betroffenen initiierte er die Migräne-App der Schmerzklinik Kiel – eine digitale Anwendung zur Dokumentation und Verlaufskontrolle, die nicht nur bei Migräne, sondern auch bei Clusterkopfschmerz eingesetzt werden kann. Sein umfangreiches Fachwissen vermittelt er in über 450 wissenschaftlichen Publikationen sowie als Leiter des ersten deutschen Masterstudiengangs für Migräne- und Kopfschmerzmedizin.
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